FZL BLOG von Ulrike Blumenthal
Anfang Juni 1939, kurz vor dem Krieg, erhielt ich Besuch von einer jungen Frau mit einer Nachricht von Matisse. […] Er wollte, dass ich ihn mit dieser Frau fotografierte, die gerade für ihn Modell saß. […] Zwei Tage nach diesen Sitzungen rief er mich an: ‚Haben Sie die Fotografien schon entwickelt? Mögen Sie sie? Wie sehe ich darauf aus?‘1
In familiärem Ton, gespickt mit Anekdoten und persönlichen Eindrücken, schildert Brassaї (1899–1984) in seinem Buch The Artists of My Life (1982, Abb. 1) seine zahlreichen Besuche in den Ateliers Pariser Künstler. Der Bildband versammelt einige der bekanntesten Aufnahmen, die der aus Siebenbürgen stammende Fotograf im Laufe seines Lebens von zahlreichen, hauptsächlich männlichen Malern und Bildhauern wie Georges Braque, Alberto Giacometti, Aristide Maillol, Henri Matisse oder Pablo Picasso an ihren Schaffensorten anfertigt.2 Diese Aufnahmen sind Gegenstand meiner Dissertation. Zunächst im Auftrag für französische Kunstzeitschriften und US-amerikanische Lifestyle-Magazine entstanden, fanden sie seit den 1960er Jahren zunehmend in Bildbänden, Ausstellungen und Portfolios große Verbreitung. Doch obwohl fotografische Künstler:innenaufnahmen in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren haben, waren Brassaїs Bilder bisher noch nicht Gegenstand einer grundlegenden Betrachtung.3 Ihre Analyse und Rezeption ermöglicht jedoch einen neuen Zugriff auf die Zeit zwischen 1930 und 1960, der Phänomene der Fotografie-, Atelier- und Avantgardegeschichte als sich gegenseitig bedingende Parameter erfasst.
Fotografische oder malerische Darstellungen von Künstler:innen bilden dabei nie einfach nur die gezeigte Person ab, sondern dienen spezifischen Interessen und vermitteln immer ein bestimmtes Bild der gezeigten Künstler:in. Brassaї findet mittels Arrangieren und Posieren nicht nur für jeden Maler oder Bildhauer eine eigene Motivik, die die individuelle Künstlerpersönlichkeit bekräftigt.4 Seine Aufnahmen ahmen die Bildsprache des dargestellten Künstlers nach und treten in einen vielschichtigen Dialog mit dessen Werken. Zugleich greift er auf Topoi5 und Bildtraditionen des 19. Jahrhunderts zurück, die mit Vorstellungen des unabhängigen, aus sich selbst schöpfenden Künstlergenies verknüpft sind. Dadurch rücken die Inszenierung und Medialisierung beziehungsweise Verbreitung eines Künstlerbildes seit der Romantik in den Mittelpunkt, das den Maler oder Bildhauer, sein Atelier und sein Werk untrennbar miteinander verschränkt.6 Anhand einer Künstler:innenschaft, die die Kunstkritik ab den 1920er Jahren unter dem Namen der École de Paris zu fassen sucht, schreiben Brassaїs Fotografien Konzeptionen des modernen Künstlers im Atelier fort und prägen das Bild dieser sogenannten „Schule von Paris“.7
Schlüsselauftrag Minotaure
Den fulminanten Auftakt von Brassaїs Atelieraufnahmen bilden die Fotografien aus Picassos Bildhaueratelier in Boisgeloup und seinem Maleratelier in Paris. Für die neu gegründete Kunstzeitschrift Minotaure wurde er im Winter 1932/33 von dem Verleger Albert Skira und dem Kunstkritiker Tériade (eigtl. Stratis Eleftheriadis) betraut, die neuesten plastischen Arbeiten von Picasso zu fotografieren. Brassaїs Aufnahmen sind ein idealer Aufmacher für die erste Ausgabe der Zeitschrift, die sich durch ihre hochwertige Gestaltung auszeichnet und durch die Darstellung der aktuellsten Entwicklungen in Picassos Werk glänzen kann.8 Die 41 Atelieraufnahmen faszinieren mit einem exklusiven Einblick in das Atelier des Künstlers und überführen Formen der Atelierreportage des 19. Jahrhunderts in ein modernes Layout, das den Fokus vehement auf das Bild legt. Meine Analyse geht dabei über den Dialog zwischen Fotograf und Künstler hinaus und versteht den Fotografen als Vermittler zwischen Künstler und Herausgebern, mithin Künstler und Publikum. Brassaї, der 1924 mit dem Ziel nach Paris gekommen war, sich als Maler zu etablieren, agiert geschickt zwischen den unterschiedlichen Interessen von Picasso einerseits sowie Skira und Tériade andererseits. Die künstlerische Bildsprache der Aufnahmen und ihre neuartige Präsentation sind dementsprechend das Ergebnis einer spezifischen Konstellation an Akteur:innen in Paris um 1930, die für die Repräsentation von Künstlern und ihrer Ateliers neue Maßstäbe setzt.
Der Auftrag für Minotaure öffnet Brassaї die Türen zu den Ateliers von Pierre Bonnard, Georges Braques, Aristide Maillol oder Henri Matisse, die in der Zwischenkriegszeit als Künstler der École de Paris ausgestellt und rezipiert werden. Es handelt sich hierbei um Maler und Bildhauer, deren Ausdrucksmittel und Werdegang sich wie bei Picasso unabhängig von staatlichen Institutionen wie der École des Beaux-arts entwickelt und vollzogen haben.9 Brassaїs Atelierfotografien bieten für die zunehmende Bedeutung des freien Künstlergenies in Abgrenzung zu akademischen Traditionen eine adäquate bildliche Form. Ihre individuelle Bildmotivik und Bildsprache formulieren Konzeptionen modernen, hauptsächlich männlich geprägten Künstlertums im fotografischen Medium aus.
Brassaїs fotografische Praxis und Bildsprache
In der Geschichte fotografischer Künstler:innen- und Atelieraufnahmen schließen Brassaїs Aufnahmen funktionell zunächst an die großen Atelierreportagen eines Edmond Bénards im späten 19. Jahrhundert an (Abb. 2). Dessen über hundert Aufnahmen, die ausschließlich Künstler zeigen, deren Werke im offiziellen Pariser Salon ausgestellt wurden, dienten als Bildvorlage für Artikel in Zeitschriften, wurden aber zugleich in Mappenwerken angeboten und galten als beliebtes Sammlerstück.10 Als Auftragsarbeiten sollen auch Brassaїs Fotografien einem im Laufe der Jahre immer größer werdenden Publikum den Einblick in die Arbeitsstätten populärer Pariser Künstler ermöglichen und dabei nicht zuletzt ebenfalls die Interessen des Kunstmarktes bedienen. Die repetitiven, auf Repräsentation ausgerichteten Motive von Bénards Fotografien weichen bei Brassaї allerdings individuellen Atelierdarstellungen. Ebenso wie Fotograf:innen des Piktorialismus – genannt seien hier vor allem die ikonischen Aufnahmen, die Edward Steichen kurz nach 1900 von Auguste Rodin erstellt (Abb. 3) – will Brassaї Bilder schaffen, die über eine abbildhafte Dokumentation hinausgehen, um Genius und Einmaligkeit zu beschwören.
Dafür entwickelt Brassaї durch Nahaufnahmen, Ausschnitte, unkonventionelle Posen und eine originäre Lichtgestaltung intime und sich voneinander unterscheidende Ateliereinblicke. Er nimmt eine bewusste Auswahl vor und lenkt den Blick bevorzugt auf Atelier- und Zimmerecken. Skulpturen und Gemälde, Paletten, Möbel und andere Einrichtungsgegenstände stellen unbewegliche Objekte dar, vor denen sich der Fotograf platzieren kann und die umgekehrt von ihm arrangiert werden. Brassaї vermeidet jegliche Art von Schnappschussfotografie, die in den 1920er und 30er-Jahren aufgrund neuer Kameras wie der Leica professionalisiert und umfassend diskutiert wird. Mit seiner Voigtländer-Bergheil, einer älteren Mittelformatkamera, die auf ein Stativ montiert werden musste, arbeitet er gegen den Zufall und gegen die automatischen Anteile des Apparates während der Bildaufnahme. Über eine Form der Dokumentation, die auf Stillstellung, Arrangement und Inszenierung beruht, lädt Brassaї das Künstleratelier im Bild auratisch auf.
Topoi und Bildtraditionen
Darüber hinaus greift Brassaї auch ganz gezielt auf nicht-akademische Bildmotiviken der Malerei des 19. Jahrhunderts zurück. Im Atelier von Picasso in der Rue la Boétie gebraucht er das Motiv der Atelierecke, das ausdrücklich auf die gezeigten Dinge abhebt, während die weitläufigen und nahezu leeren Räume außen vor bleiben (Abb. 4). Damit repräsentiert er die großbürgerliche Wohnung, in der Picasso sein Atelier eingerichtet hat, in einer Atelierikonografie, die in Frankreich ab den 1860er Jahren vor allem im Umkreis des Impressionismus und Realismus und damit von Maler:innen moderner Strömungen genutzt wurde (Abb. 5).
Wie in Monets Atelierecke legt Brassaї den Fokus auf die Dinge im Atelier, in welchem sich nunmehr jedoch radikal Kunstobjekte mit Alltagsgegenständen mischen. Brassaї demonstriert eine Form des Kunstschaffens, die sich keinen Regeln oder Normen unterordnet und die schon von Zeitgenossen als „Effekt einer bahnbrechend neuen Kunst“11 verstanden wurde. Mittels Kamerastandpunkt und Bildausschnitt evoziert die Aufnahme wirkungsvoll das Bild eines schöpferischen Künstlers, der inmitten eines Amalgams aus Dingen und gleichsam wertlosen Materialien ‚Kunst‘ entstehen lassen kann.
Brassaїs Darstellung von Georges Braque speist sich dagegen aus der Vorstellung vom Atelier als Rückzugsort, an dem der Maler seine Subjektivität verwirklichen kann (Abb. 6). Die nächtliche Aufnahme des in seine Arbeit vertieften Malers verweist auf das Atelier als romantisches Refugium, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts für Maler wie Caspar David Friedrich real wie symbolisch zu einem Gegenort avancierte (Abb. 7). Mit den Aufnahmen aus Giacomettis Schaffensort schließlich rückt das Atelier des Bildhauers als atmosphärischer Ort des Arbeits- und Schaffensprozesses in den Mittelpunkt (Abb. 8). Mit ihrem Fokus auf das Material und den Werkprozess sowie auf Transformation und Verlebendigung schreiben sich die Aufnahmen ein in eine moderne Vorstellung vom Bildhaueratelier, die rund 50 Jahre zuvor durch Auguste Rodin große Wirkmacht erlangte. Nackte Wände, die um sich greifenden Gipsmassen, das Fehlen jeglichen Komforts sowie die begonnenen Arbeiten verfestigen das Bild vom Künstler als ein Außenseiter, der sich ganz und gar der künstlerischen Arbeit und der Suche nach einer Bildsprache verschrieben hat, die sich von allen Konventionen löst.
Dialog der Medien: Die Aufnahmen als Übersetzung und Echo des Originals
Das Atelier als Motiv, Ort und Topos ermöglicht demnach einen Einblick in Schaffenskonzepte und Vorstellungswelten, für deren Darstellung sich Brassaї auch an Formprinzipien, Motiviken oder dem Bildverständnis des jeweiligen Künstlers oder Bildhauers orientiert. Die Bildsprache der Aufnahmen lässt sich deshalb mit Walter Benjamin als eine spezifische Form der Übersetzung charakterisieren, die dank einer eigenständigen Gestaltung auf das Original zurückweist.12 Brassaї arbeitet beispielsweise kreativ mit den formalästhetischen Merkmalen von Picassos Gipsfiguren Anfang der 1930er Jahre, wofür er die gegenseitige Affinität von Bildhauerei und Fotografie zu nutzen weiß. So antwortet die fotografische Multiplikation von Motiven, Formen und Perspektiven, wie sie sich auf den Seiten in Minotaure darstellt, auf die sich stark voneinander unterscheidenden Schauseiten von Picassos Frauenköpfen und Figurinen. Im Atelier von Matisse sucht Brassaї das Benjaminsche „Echo des Originals“13 durch die Behandlung von Licht und Schatten sowie durch das Spiel mit Rahmen und Begrenzungen, Verschachtelungen und Öffnungen umzusetzen. Er übernimmt explizit die Anordnung des Gemäldes, an dem der Maler gerade arbeitet, welches er zudem in die Aufnahme integriert. Nicht nur lässt er analog zu Matisse Raum- und Mediengrenzen ineinandergreifen; ihm ist es gelungen, Schatten fast vollständig zu vermeiden, was dem Raum seine Tiefe und den Gegenständen ihre Struktur nimmt. Die Komposition der fotografischen Aufnahme, die 1940 in Cahiers d’art der Reproduktion des überarbeiteten Gemäldes gegenübergestellt ist, ist allerdings weitaus fixierter als das Gemälde von Matisse und ins Innere des Bildfeldes ausgerichtet. Der Maler hingegen reiht die Bildelemente friesartig nebeneinander in einem flachen Bildraum auf, der die Zweidimensionalität der Leinwand betont. Der Dialog zwischen Malerei und Fotografie verweist auf die Ebenbürtigkeit des Fotografen, der als kongenialer Partner einen Zugang zum Werk eröffnet und den Schöpfungsgedanken nachvollziehen lässt.
Die École de Paris und das Atelier: Kanonisierung nach 1945
Präsentiert Brassaї sich in den 1930er Jahren als Exeget und Interpret der Werke von Matisse, Bonnard, Maillol oder Picasso, stößt seine Herangehensweise mit einer neuen Generation an Maler:innen und Bildhauer:innen nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits und der zunehmend filmischen Vermittlung des Schaffensaktes andererseits an ihre Grenzen. Die Werke solch abstrakt arbeitender Künstler wie Simon Hantaї, Georges Mathieu oder Pierre Soulage bieten für Brassaї kaum noch motivische oder formale Anknüpfungspunkte, so dass der innovative Charakter seiner Bildfindungen mit steigender Auftragslage in den 1950er Jahren einer zunehmend stereotypen Bildsprache weicht.14
Die Veröffentlichung von Brassaїs Atelierfotografien von Braque, Bonnard, Giacometti oder Picasso in US-amerikanischen Mode- und Lifestylezeitschriften nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum verweist auf die zunehmende Popularität dieser Künstler, die nun weltweit als Stars und Celebritys rezipiert werden. Die internationale Verbreitung und Vorbildwirkung von Brassaїs Darstellungen auf Aufnahmen anderer Fotograf:innen spielt für die Kanonisierung der École de Paris eine zentrale Rolle. Folgt man den zahlreichen Ausführungen der Kunstkritik dieser Jahre, ist die individuelle Künstlerfigur in Paris Teil einer Gemeinschaft, die sich allein über ihren Bezug zur französischen Hauptstadt definiert. Über unzählige fotografische Darstellungen wird die heterogene Pariser Künstler:innenschaft als eine historische und geografische Gruppe individueller Maler und Bildhauer rezipiert, für die das Atelier den Rahmen zu geben vermag. Um 1959, einem Zeitpunkt, der in der Forschung als „ein Moment der akuten Krise in der Produktion und Rezeption der Malerei der École de Paris“ beschrieben wird, erscheinen gleich drei Fotobücher mit Atelieraufnahmen von Pariser Künstlern (Abb. 9). Die Publikationen mit Fotografien von Willy Maywald, Michel Sima und Alexander Liberman preisen die Einheit dieser Schule von Paris, während es angesichts politischer Krisen der Vierten Republik sowie des internationalen Erfolgs amerikanischer Künstler:innen zunehmend problematisch wird, die Vorherrschaft der französischen Malerei und ihrer Tradition zu rechtfertigen.
Meine Arbeit trägt, so mein Ziel, dazu bei, die Gründe für die Allgegenwärtigkeit und Wirksamkeit der modernen Künstlerfigur besser zu verstehen. Nur in Paris konnten Konzepte und Vorstellungen vom individualistischen Künstlergenie so fruchtbar und wirkungsvoll in das fotografische Medium übertragen werden. Bildsprache, Veröffentlichung und Wirkung von Brassaїs Aufnahmen beruhen auf den spezifisch historischen, topografischen, soziokulturellen und medientechnischen Bedingungen, denen die französische Hauptstadt Ende der 1920er bis Ende der 1950er Jahre unterliegt. Umgekehrt tragen Ort und Zeitraum zu einer neuen Bedeutung und Sichtbarkeit des fotografischen Genres ‘Künstler im Atelier‘ bei, das sich aus den Bedürfnissen der (Selbst-)Repräsentation der École de Paris speist. Brassaїs Aufnahmen festigen damit die seit Beginn der Romantik gültige Trias Atelier-Künstler-Werk und wirken katalysierend für die Entwicklung nach 1945, in der die fotografische Darstellung des Künstlers im Atelier durch Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson, Denise Colomb, Robert Doisneau, Alexander Liberman, Willy Maywald oder Ernst Scheidegger eine bemerkenswerte Popularität erfährt. Die enorme Produktion und Verbreitung dieser Fotografien tragen zu einer Festigung und Allgegenwärtigkeit der modernen Künstlerfigur bei, die bis heute kaum etwas von ihrer Wirksamkeit verloren hat.
Endnoten
1 Brassaї, The Artists of My Life, New York: The Viking Press 1982, S. 125–128 (eigene Übersetzung).
2 Die Durchsicht der Kontaktaufnahmen, die im Archiv des Centre Pompidou aufbewahrt sind, gibt eine Übersicht über die abgebildeten Künstler:innen. Unter den etwas mehr als 50 Personen, die Brassaї im Laufe von mehr als 30 Jahren fotografiert hat, befinden sich nur fünf weibliche Künstlerinnen: Dora Maar, Marcelle Loubchansky, Germaine Richier, Maria Helena Vieira da Silva und eine unbekannte Malerin. Obwohl Frauen ab dem 19. Jahrhundert in Paris von neuen Möglichkeiten der künstlerischen Ausbildung, Partizipation und gesellschaftlichen Anerkennung profitieren, herrscht eine generelle Diskrepanz zwischen ihrer Präsenz in der künstlerischen Szene und ihrer Nicht-Repräsentation. Um die visuelle Überlegenheit männlicher Protagonisten zu kennzeichnen, nutze ich explizit die männliche Form und spreche von „Künstlern“ beziehungsweise von Begriffen wie „Künstlerbild“ oder „Künstlergenie“. Die gegenderte Form wird dann verwendet, wenn es sich um die heterogene Künstler:innenschaft handelt, die so auch historisch gegeben war.
3 In den letzten Jahren nahmen mehrere Ausstellungen die unzähligen fotografischen Aufnahmen von Künstlern im Atelier in den Fokus. Vgl. Dans l’atelier. L’artiste photographié, d’Ingres à Jeff Koons, hg. von Delphine Desveaux, Susana Gállego Cuesta, Françoise Reynaud, Ausst.-Kat., Paris: Paris musées 2016; Künstler Komplex. Fotografische Porträts von Baselitz bis Warhol. Sammlung Platen, hg. von Ludger Derenthal, Jadwiga Kamola, Ausst.-Kat., Heidelberg/Berlin: Kehrer/Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin 2018.
4 Für Brassaїs Darstellungen der weiblichen Künstlerinnen gilt das nicht. So spezifisch Posen und Motivik in Brassaїs Aufnahmen ausformuliert sind, so sehr befördern sie Auffassungen über die künstlerische Schöpfung, in denen sich Maskulinität und Schaffensakt gegenseitig bedingen. Frauen können sich nicht bruchlos in diese Künstlerikonografie und ihre Genieauffassung einordnen: „Denn entweder gibt es keine gleichwertigen, äquivalenten Rollen oder das künstlerische Konzept bleibt nicht haften, weil es zu nachhaltig von Männern über Jahrhunderte geprägt oder codiert worden ist.“ Bettina Gockel, „Die fotografische Persona und die Bedeutung der Fotografie als Kunst“, in: Ausst.-Kat. Künstler Komplex 2018, S. 37–41, hier S. 39.
5 Der ursprünglich aus der klassischen Rhetorik stammende Begriff „Topos“ bezeichnet im weitesten Sinne gängige Vorstellungen, feste Fügungen oder stehende Begriffe. Vgl. „Topos“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Topos>, abgerufen am 24.11.2021. Zu visuellen Topoi vgl. Ulrich Pfisterer, Max Seidel, Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München: Deutscher Kunstverlag (DKV) 2003.
6 Während sich nach 1900 bis in die 1920er Jahre im Zuge der Pathologisierung des Künstlers und seiner Lebensgeschichte die „Idealgestalt des vergeistigten Künstlers“ herausbildet – eine Idealgestalt, für die Ernst Ludwig Kirchner oder Paul Klee vorbildwirkend wurden – generieren Brassaїs Fotografien eine Vorstellung vom Künstlergenie, die eher der Ideengeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und weniger der Wissenschaftsgeschichte entspringt. Vgl. Bettina Gockel, Die Pathologisierung des Künstlers. Künstlerlegenden der Moderne, Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 252.
7 Es handelt sich hierbei um eine heterogene Gruppe einheimischer und emigrierter Künstler mit individuellen Bildsprachen, die den Bildgegenstand mithilfe von Farbe und Form verfremden und einer persönlichen Sicht unterwerfen, ohne den Bezug zu ihm gänzlich aufzugeben. Nathalie Adamson beschreibt die École de Paris als „a critical concept“, “riddled with the inconsistent mannerisms of originality-obsessed and individualistic painters.“ Natalie Adamson, Painting, Politics and the Struggle for the École de Paris, 1944-1964, Farnham/Burlington: Ashgate 2009, S. 22–30, hier S. 2–3.
8 André Breton, „Picasso dans son élément“ (mit Fotografien von Brassaї), in: Minotaure. Revue artistique et littéraire, Nr. 1 (Juni 1933), S. 8–29.
9 Unter dem Schlagwort der École de Paris beschwört der Schriftsteller und Kunstkritiker André Warnod Mitte der 1920er Jahre die Grundlagen dieser modernen Kunst, die in der Zwischenkriegszeit in Frankreich noch um institutionelle Anerkennung ringt. Sie nähre sich aus der Hingabe des Künstlers an sein Werk, der Einsamkeit des Ateliers und dem Kampf um Unabhängigkeit: „Un des titres de gloire de l’École de Paris sera peut-être justement de s’être développée dans la bataille, en gardant toute son indépendance, toute sa liberté“, schreibt Warnod in Les Berceaux de la Jeune Peinture (1926).
10 Vgl. Jérôme Delatour, „À propos des vues d’ateliers d’artistes d’Edmond Bénard“, in: Pierre Wat (Hg.), Portraits d’ateliers. Un album de photographies fin de siècle, Paris, Grenoble: Institut national d’histoire de l’art u.a. 2013, S. 21–31, hier S. 21. Zum beliebten journalistischen Genre des Atelierbesuchs im 19. Jahrhundert vgl. Rachel Esner, „Nos artistes chez eux. L’image des artistes dans la presse illustrée“, in: L’artiste en représentation. Images des artistes dans l’art du XIXe siècle, hg. von Alain Bonnet, Ausst.-Kat., Lyon: Fage éditions 2012, S. 139–149.
11 Der Journalist Georges Martin beschrieb bei einem Besuch nicht lange nach Picassos Einzug in die Rue la Boétie ein „inextricable désordre, effet de l’art le plus novateur“. Georges Martin, „Picasso“, in: L’Intransigeant (27. Oktober 1919), S. 2.
12 Benjamin führt sein Verständnis von der Funktion einer Übersetzung in seinem Vorwort für die von ihm ins Deutsche übertragene Gedichtsammlung Tableaux Parisiens (1923) von Charles Baudelaire aus. Vgl. Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers (1923)“, in: ders., Gesammelte Schriften, VI.1, hg. von Tilman Rexroth, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 9–21.
13 Ebd., S. 16.
14 Im Februar 1954 erscheint in Harper’s Bazaar ein mehrseitiger Beitrag von James Johnson Sweeney unter dem Titel „The Young Gard – Painters in Paris“ mit Aufnahmen, die Brassaї von Simon Hantaї, Marcelle Loubchansky, Gustave Singier, Georges Mathieu, Pierre Soulages, Arpad Szenes und Vieira da Silva in ihren Ateliers angefertigt hat. Vgl. James Johnson Sweeney, „The Young Guard – Painters in Paris“, in: Harper’s Bazaar, Vol. 87, Nr. 2907 (Februar 1954), S. 106–111.